Wieviel Nähe braucht (m)ein Kind?
Eltern lieben ihre Kinder. Dennoch sagt man Müttern meist das emotionalere Verhältnis zu den Kindern nach. Das ist nicht verwunderlich, schließlich sind es die Mütter, die während der Schwangerschaft ihren Körper mit dem Kind teilen. Eine engere Beziehung ist nun wirklich nicht mehr vorstellbar. Aber wie gestaltet sich diese enge Beziehung weiter, wenn das Kind im Lauf der Zeit größer und selbstbestimmter wird? Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Familienmodelle auf die Eltern-Kind Beziehung? Und wo lauern Fallstricke, die das sensible Verhältnis Eltern-Kind stören können?
01.02.2017 von Judith Israel
Lesedauer ca. 10 Minuten
Nach einem anstrengenden Arbeitstag holt eine Mutter ihr Kind aus der Kita ab. Sie nimmt das Kind auf den Arm und küsst es. Auf dem Weg nach Hause wiederholt sich das Prozedere noch einige Male. Die Reaktion des Kindes wird zunehmend heftiger. Das Kind kneift die Augen zusammen und versucht sich aus der Umklammerung zu lösen. Weil es keine andere Wahl hat, lässt es das Kind geschehen und wischt sich anschließend mit der Hand die geküsste Stelle ab.
Wieviel Nähe braucht mein Kind? Wie bei so vielen Fragen rund um die Erziehung, kommt man bei deren Beantwortung vom hundertsten ins tausendste und am Ende ist man doch nicht schlauer. Aber das ist kein Grund, sich der Resignation hinzugeben. Denn eine Beruhigungspille haben wir gleich zu Beginn für alle Eltern parat: Gott hat die Kinder mit einer nahezu unerschöpflichen Kraftquelle ausgestattet, die es ihnen ermöglicht, mit so mancher Unzulänglichkeit und Widrigkeit, auch mit uns Eltern, klar zu kommen.
Bereits auf den ersten Seiten beschäftigt sich die Bibel mit der Frage der Eltern-Kind Beziehung. Mose hat es erstmals formuliert und Jesus später nochmals eindrucksvoll bestätigt:
Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein.
Matthäus 19, Vers 4 sowie 1. Mose, Kapitel 2, Vers 24
Nach diesen Worten ist es nicht so, wie es allgemein angenommen wird, nämlich das Kinder ein Fleisch mit ihren Eltern sind. Nein, mit ihrem Partner werden sie EIN Fleisch sein! Diese Feststellung stellt für viele Eltern einen völligen Paradigmenwechsel ihrer Sichtweise dar. Wenn sie erkennen lernen, welche sinnliche Lebenswahrheit sich dahinter verbirgt, gibt das den Blick auf neue Sichtweisen frei, von der alle, Eltern und Kinder, nur profitieren werden.
Bereits das junge Alter kennt Schamgefühl
Unsere kleine Eingangsgeschichte deutet es bereits an, welch kleine und große Minenfelder sich in den emotionalen Beziehungen zwischen Eltern und Kind ergeben können. Sehr oft schon haben wir eine Szene wie die Beschriebene halb schmunzelnd, halb nachdenklich verfolgt. Es zeigt vor allem eines:
Schon in allerjüngsten Jahren entwickelt sich bei Kindern ein Schamgefühl, vor allem auch den eigenen Eltern gegenüber.
Dieses Schamgefühl ist nichts anderes als der Vorbote eines langfristigen Lösungsprozesses. Mit Kopf wegdrehen und Kuss abwischen fängt es an. Schon bald wollen sich "die Kleinen" nicht mehr von ihren Eltern an die Hand nehmen lassen. Und spätestens nach der Schuleinführung nimmt die weitere körperlich-emotionale Abnabelung von den Eltern weiter an Fahrt auf. Aber trotz unserer super aufgeklärten Gesellschaft, auf die nicht wenige gerade wegen ihrer pädagogischen Unbefangenheit so stolz sind, bleibt vieles offen oder unklar; vor allem eben auch was die emotional-sinnliche Beziehung zwischen Eltern und Kind über den Augenblick hinaus angeht. Vorhandene Missverständnisse können sich über Jahrzehnte hinweg erhalten und bis ins hohe Alter von Eltern und Kind Auswirkungen zeigen.
Nähe ist wichtig, aber wieviel?
Dass wir Eltern uns unserem Kind öffnen, wenn es körperliche Nähe und Geborgenheit sucht, das ist eine Selbstverständlichkeit. Körperlicher Kontakt zum Kind ist vor allem in den ersten zwei, drei Lebensjahren von allergrößter Bedeutung. Durch diesen Kontakt wird dem Kind Vertrauen, Wärme und Geborgenheit vermittelt. Das sind die drei Grunderfahrungen, die für die Entwicklung des Kindes von herausragender Bedeutung sind. Auch bei Krankheit oder in besonderen Stresssituationen ist körperlich spendender Trost durch die Eltern sehr wichtig. Aber damit sind eigentlich schon alle wesentlichen Punkte genannt, in denen Eltern unbefangen die körperliche Nähe zu ihren Kindern suchen sollten. Das ist leichter gesagt als getan. Oft sind die Eltern, vor allem die Mütter, liebebedürftiger als ihre Kinder! Es ist also nicht immer einfach, das richtige Maß, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort zu finden. Aber wie sollen sich Eltern bezüglich der emotional-sinnlichen Bindung zu ihren Kindern verhalten?
Nähe ermöglichen, Weite zulassen!
Die Essenz der sinnlich-emotionalen Eltern-Kind Beziehung mündet in der Aussage :
Nähe ermöglichen, aber Weite zulassen.
In diesen wenigen Worten liegt das ganze Geheimnis einer guten Eltern-Kind Beziehung begründet. Eltern sollen da sein, wenn das Kind die Nähe sucht. Ansonsten gilt: Gib deinem Kind Freiheit und verleihe ihm dadurch Flügel. Für diese Vorgehensweise gibt es ein prominentes Beispiel. Denn Gottes Beziehung zu uns Menschen beruht auf genau diesem Prinzip. Letztendlich ist die ganze Eltern-Kind Beziehung eine komplette Spiegelung der Gott-Mensch Beziehung, mit allen Freuden und Weh und Ach.
Macht es wie Jesus
Jesu hat sich meist an erwachsene Menschen gewandt. Aber einige Male, so erzählt es die Überlieferung, stellte er die Kinder in den Mittelpunkt seiner Aussage. Zwei davon sind:
Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich.
Matthäus 19, Vers 14
oder
Und er rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.
Matthäus 18, Vers 2-3
In beiden Aussagen stellt Jesus die Kinder mit dem Himmelreich auf eine Stufe. Das zeigt den hohen Stellenwert, den Kinder bei Gott und Jesus genießen. Jesus fordert uns auf, von den Kindern zu lernen! Er will sogar noch mehr! Wir sollen umkehren und so werden wie sie! In dem Gemüt eines Kindes ist nach Jesu Worten das Himmelreich verborgen. Unsere Kinder brauchen zwar unsere materielle Fürsorge, weil sie noch nicht für sich selbst sorgen können. Ansonsten sollen wir als Eltern der göttlichen Strahlkraft unserer Kinder nacheifern! Das schließt ein, das wir ihnen mit Respekt begegnen. Vor allem Respekt ist ein Schlüsselbegriff in der sinnlich-emotionalen Beziehung zu unseren Kindern. Wer Jesu Aufforderung berücksichtigt und umsetzt, der kann in der sinnlich-emotionalen Beziehung zu seinem Kind nicht mehr viel falsch machen.
Die Crux moderner Beziehungen
Eigentlich könnten wir an dieser Stelle den Beitrag beenden. Denn für einen "normalen" Familienverbund, bestehend aus Mann, Frau und Kindern, gibt kaum mehr zu sagen. Bei der Vielzahl anderer moderner, familienähnlicher Beziehungen lauern jedoch neue Stolpersteine, die im Blick auf die sinnlich-emotionale Beziehungen zwischen Elternteil und Kind beachtenswert sind. Neben dem bürgerlichen Familienbegriff gibt es die oder den Alleinerziehenden, die Patchwork-Familie und die gleichgeschlechtliche Partnerschaft mit Kind. Innerhalb jedes dieser Familienverbunde wird das Kind mit anderen, zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert.
Wird fortgesetzt ...